Handwerkskammer Region Stuttgart startete Personaloffensive Handwerk 2025 – Drei Betriebe im Kreis Böblingen besucht. Die Ursachen für den enormen Fachkräfte- und Nachwuchsmangel im Handwerk sind vielfältig: Der Imageverlust der Handwerksberufe, die vermeintlich bessere Bezahlung, mehr Perspektiven und bessere Arbeitsbedingungen bei den im Kreis ansässigen Industrieriesen.

KREIS BÖBLINGEN. Die Handwerkskammer Region Stuttgart reagiert mit einer groß angelegten Kampagne, der „Personaloffensive 2025“, und bietet unter anderem den Betrieben gezielte Beratungen an. Eine Delegation der Handwerkskammer informierte sich kürzlich zusammen mit Vertretern der Kreishandwerkerschaft, der Innungen und den lokalen Wirtschaftsförderern bei drei Betrieben über die Situation und die bereits ergriffenen Maßnahmen.

„Wie wird das Handwerk wieder attraktiv? Wie bekommen wir Azubis und Personal und wie halten wir gute Leute?“ Mit diesen Kernfragen begrüßte Dr. Helmut Baur, Seniorchef von Binder-Optik, die Delegation rund um Handwerkskammer-Hauptgeschäftsführer Thomas Hoefling. Wie Binder-Personalchefin Sabine le Plat in ihrem Referat darlegte, läuft im 350-Mitarbeiter-Unternehmen Binder bereits eine Personaloffensive auf allen Ebenen. In der Augenoptik-Branche kommen die heutigen Ladenöffnungszeiten beim Werben um Meister und Gesellen noch erschwerend hinzu. Samstags frei und abends ab 17 Uhr geht hier nicht. Ein K.o.-Kriterium bei vielen Bewerbern, konstatiert auch Dominik Baur, Frontmann in der Böblinger Geschäftsleitung.

Flexibilität und Wertschätzung
Das Ergebnis einer differenzierten Analyse, basierend auf vielen Mitarbeiter-Gesprächen und Nachfragen bei Bewerbungsgesprächen bringt le Plat so auf den Punkt: „Zufriedene Mitarbeiter sind der Schlüssel.“ Die erfahrene Personalfrau berichtet von den Ergebnissen: „Unter 30 ist die Perspektive interessant, die 30- bis 40-Jährigen legen Wert auf flexible Arbeitszeiten. Manche wollen auch vier mal zehn Stunden arbeiten und dann einen Tag frei, um Zeit für Erledigungen und Familie zu haben.“ Bei Mitarbeitern über 50 hingegen nehme das Thema Freizeit und auch Wertschätzung einen hohen Stellenwert ein. Wünsche freilich, welche den Personalern organisatorische Klimmzüge abverlangen. Um mehr Zufriedenheit zu erzielen, hat Binder viele Werkzeuge, Ansatzpunkte und kleine Benefits erarbeitet. Eine feste Gehaltsstruktur soll Ungerechtigkeiten vermeiden, denn die Mitarbeiter tauschen sich aus, das sei nicht zu verhindern. Wer die gleiche Ausbildung, die gleichen Kompetenzen und die gleiche Funktion beziehungsweise Position hat, bekommt auch das gleiche Gehalt. Es gibt Erfolgsprämien für Filialteams und für jeden Mitarbeiter ein Laufbahnmodell. Und man höre und staune: „Zur neuen, minutengenauen Erfassung der Arbeitszeit sagen die Mitarbeiter: Ist ja toll. Dann kriege ich auch meine Überstunden alle anerkannt“, berichtet le Plat.

Wie Nachwuchskräfte finden? Das laufe bei Binder über Schulmessen, Online-Portale, über die Homepage und immer wieder über Schulpraktika und Bewerbertrainings in den Schulen, so die Personal-Fachfrau. Zudem habe man firmenintern die Ausbildungsvergütung angehoben, um mit den Büro-Azubis gleichzuziehen. Sabine le Plat: „Mitarbeiter bleiben, wenn sie sich wohl fühlen, wenn die Lebensqualität steigt.“

An der nächsten Station hörte die Handwerkskammer-Delegation etwas anders gelagerte Probleme: „Meine Mitarbeiter müssen bei minus 15 Grad raus, aber auch bei plus 30 Grad“, stimmt Christian Hanisch, seit fünf Jahren alleiniger Geschäftsführer des Sindelfinger Dachdeckerbetriebs Arlt + Hanisch, die Besucher auf die Situation im klassischen Handwerksbetrieb mit 16 Mitarbeitern und zwei Azubis ein. Auch er beklagt die Nähe zur fachkräfteaufsaugenden Industrie und suche mitunter jahrelang nach neuen Fachkräften. Als Erfolg verbucht er aktuell fünf Jahre ohne Fluktuation. Der Grund: „Die Bonbons, die wir bieten. Zum Beispiel Gesundheitsprämien für alle, die weniger als zwei Wochen krank sind.“ Und um Missverständnissen vorzubeugen: „Wer krank ist, der wird heimgeschickt.“ Neben weiteren Bonbons wie Fitnesstraining spricht sich folgendes herum: „Mitarbeiter und Azubis bekommen einen Smart zur Verfügung. Beschriftet, als Werbeträger, präsentieren wir damit die Firma und das Berufsbild – und so gelangen wir unsere Zielgruppe.“ Hartmut Schad, Geschäftsführer der Dachdecker-Fachinnung berichtete, dass für diese dort initiierte Smart-Aktion bereits 30 Fahrzeugbestellungen aus insgesamt 80 Betrieben der Innung vorliegen.

Aha-Erlebnisse
Die dritte Station der Kammer-Vertreter bei Elektro Breitling in Holzgerlingen brachte abermals Aha-Erlebnisse und anerkennende Worte, auch seitens des hier anwesenden Elektro-Obermeisters Rolf Brenner und Holzgerlingens Stadtchef Ioannis Delakos. Seit Unternehmenschef Klaus Finger „per Handschlag“ im Jahr 2000 die Firma Elektro Breitling kaufte, ist die Unternehmensgruppe um sechs weitere Unternehmen und die Niederlassung in Stuttgart gewachsen. Über 200 eigene und rund 140 externe Mitarbeiter sind heute für Kunden in Wirtschaft und Industrie, aber auch für Privat im Einsatz. 2014 holte Finger den Bildungsfachmann und Coach Jörg Veit in die Geschäftsleitung „als Ansprechpartner für Personal und dessen Belange. Das ist ein Aspekt der Mitarbeiterbindung.“ Unter dem Motto „fördern und fordern“ biete man sieben Ausbildungsberufe, darunter auch ein Duales Studium an und hat Personalkampagnen mit Broschüren auf den Weg gebracht. Auf Messen und in Schulen ist die EB-Gruppe präsent. „Eine unserer Hauptaufgaben sehen in der persönlichen Entwicklung für unsere Mitarbeiter“, so Veit. Gespräche über den Bedarf, Feedbacks und Weiterbildungen, Karriereplanung sowie Coachings helfen, Mitarbeiter zu halten, Kompetenzen zu vermitteln, auch mit neuen Aufgaben zurecht zu kommen. Benefits wie Privatnutzung von Firmentablets und Smartphones oder sogar einige bezahlbare Mitarbeiterwohnungen sind zusätzliche Anreize zu bleiben. Azubis biete man mit dem firmeneigenen Ausbildungszentrum, festen Ansprechpartnern und Lehr-Baustelleneinsätzen optimale Lernbedingungen, wohl wissend, dass „Empfehlungsmarketing ein gutes, nachhaltiges Instrument ist.“ Auch hier das offene Ohr für Mitarbeiter. Klaus Finger berichtet: „Bevor ein Mitarbeiter kündigt und sich einen anderen Job sucht, damit er mittwochs ab 17 Uhr die Nachwuchskickermannschaft seines Sohnes betreuen kann, finden wir eine andere Lösung. Dann richten wir es ein, dass er an diesem Tag um 15 Uhr zu Hause sein kann.“

Text: Sabine Ellwanger

Artikel – KREISZEITUNG Böblinger Bote